Ich ersuche dich, drehe das Rad der Lehre zum Nutzen der Lebewesen.

Der fünfte Zweig steht mit der Ausbreitung der Buddha-Lehre in Verbindung. Wenn das Rad der Lehre in Bewegung gesetzt wird, kann der Dharma sowohl vom Buddha als auch von anderen Lehrern verbreitet werden. Die Bitte um den Dharma ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Lehren auch wirklich zu erhalten. Es wird als ein gutes Omen angesehen, dieses Gebet vor einer Statue oder einem Bild des Buddha zu sprechen. Dabei denkt man natürlich nicht, daß es sich nur um ein Bild oder einen Metallgegenstand handelt, sondern daß Avalokitesvara selbst präsent ist.

Es wird in den Meditationsanweisungen immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, nicht über eine Statue des Buddha als ein Stück tote Materie zu meditieren. Man sollte die Gewißheit erzeugen, daß der Buddha wirklich anwesend ist. Dies wird am Anfang schwierig sein. Daß es Schwierigkeiten gibt, ist jedoch kein Grund, diese Übung zu vernachlässigen. Wer den Dharma vollständig ausüben will, muß sich schrittweise schulen und dabei auch Schwieriges auf sich nehmen.

Will man sich die Präsenz des Buddha vergegenwärtigen, kommt es darauf an, eine Überzeugung von den Qualitäten des Buddha zu entwickeln. Man führt sich vor Augen, daß von seiten des Buddha keinerlei Hindernisse bestehen, um den Wesen in größtem Ausmaß zu nutzen. Es heißt, daß dort, wo das Vertrauen groß ist, auch die Buddhas zugegen sind. Die Heilsaktivität der Buddhas ist grenzenlos und unbeschränkt.

Es liegt allein an dem Vertrauen und dem Bemühen des Schülers, diese Hilfe der Buddhas auch wirksam werden zu lassen. Wenn man sich dies immer vergegenwärtigt und das Vertrauen jeden Tag einübt, wächst über die Wochen und Jahre langsam das Vertrauen. Im Buddhismus wird Wert darauf gelegt, daß man Begründungen für sein Vertrauen hat. In dem Moment jedoch, wo man praktiziert und Gebete rezitiert, sollte man keine großen Zweifel aufkommen lassen, sondern Hingabe üben. Man setzt sein ganzes Vertrauen in den Buddha, zu dem man betet, und stellt in diesem Moment keine Überlegungen darüber an, ob es nicht doch sein könnte, daß der Buddha gar nicht anwesend ist. Außerhalb dieser Meditation ist es dann angebracht, erneut Analysen anzustellen und Studien über die Qualitäten des Buddha zu betreiben, damit das Vertrauen weiter anwachsen kann.

Ich bitte dich, diese leidvolle Welt nicht zu verlassen.

In diesem Zweig bittet man die Buddhas, daß sie ihre Formkörper immer wieder zeigen. Nur so haben die Wesen die Möglichkeit, in Gegenwart des Buddha Verdienste anzusammeln und Unterweisungen von ihm zu erhalten.

Alle in den drei Zeiten gesammelten Verdienste, meine eigenen und die der anderen, widme ich, daß sie eine Ursache für das Erreichen der Erleuchtung sein mögen.

Der letzte Zweig ist die Widmung. Man muß achtgeben, daß das Heilsame, das man ansammelt, nicht verlorengeht. Deshalb widmet man die Verdienste von sich selbst und den anderen guten Zielen. Die Verdienste werden überhaupt erst nutzbar, wenn man sie für entsprechende Zwecke einsetzt.

Wenn wir die Verdienste der anderen widmen, sollten wir nicht das Gefühl haben, sie zu bestehlen. Durch das Widmen gehen die Verdienste nicht verloren, sondern sie wachsen noch weiter an. Wenn man in dieser Weise das Heilsame der Erleuchtung aller Wesen widmet, handelt man im Einklang mit den Bemühungen und den Absichten sämtlicher Buddhas. Gleichzeitig verbindet man die eigenen Absichten, Handlungen und Verdienste mit den Absichten, Handlungen und Verdiensten der Buddhas. Dadurch wird das Heilsame etwas Gemeinsames, eine Art Pool. Man kann es sich wie bei einer Geldanlage vorstellen, an der viele Personen beteiligt sind. Wenn viele Geld einzahlen, vermehrt sich das Geld sehr rasch. Genauso verhält es sich mit den eigenen verdienstvollen Handlungen. Sie sind wie ein Tropfen Wasser im Ozean, und die Buddhas beziehen diese Verdienste in ihre Wunschgebete mit ein.

Der nächste Vers stammt direkt von der indischen Nonne Gelongma Palmo, die sehr viel über Avalokitesvara meditiert hat. Sie hat durch ihre Meditationen Avalokitesvara von Angesicht zu Angesicht gesehen und hatte eine Verbindung zu ihm wie zu einem Lehrer, den sie immer um Rat fragen konnte.

Weil du von Fehlern nicht beschmutzt bist, ist dein Körper leuchtend weiß; dein Haupt ist gekrönt mit dem vollendeten Buddha Amitabha; immerzu schaust du mit Augen des Mitleids auf alle Wesen - dich, Tschenresig, bitte ich um Segen.

Avalokitesvaras Körper ist rein und weiß, weil er keinerlei Befleckungen und Hindernisse mehr aufweist. Avalokitesvaras Name wird im Tibetischen als "Tschenresig" über setzt; das bedeutet "der mit weit geöffneten Augen schaut" und bezieht sich auf das große Mitgefühl des Buddha, mit dem er auf die Wesen in der Welt schaut. Die Augen sind nicht geschlossen wie in der Meditation, sondern weit geöffnet und auf die leidenden Wesen gerichtet. Dann bittet man um den Segen. Die Bedeutung von Segen ist, eine positive Veränderung im eigenen Geist herbeizuführen; den unruhigen und unfriedlichen Geist in einen ausgeglichenen, disziplinierten und friedvollen zu wandeln. Durch den Segen werden Bedingungen für eine solche Transformation geschaffen.

Im Herzen der Gottheit, auf einer Mondscheibe, erscheint die Silbe HRÏH, umgeben von den sechs Mantra- Silben. Daraus fließt ein Strom von Licht und Nektar durch meinen Scheitel in mich ein, füllt meinen Körper an und reinigt mich von allen Befleckungen durch schädliche Handlungen. Mein Körper wird zu einem Aggregat von weißem Licht.

OM MANI PADME HUM.

An dieser Stelle folgt die Mantra-Rezitation. Dabei visualisiert man die Silbe HRÏH im Zentrum auf der Mondscheibe stehend, entweder in der ursprünglichen Schreibweise des Sanskrit oder des Tibetischen oder in der Schreibweise der eigenen Sprache. Um die Mondscheibe mit der Silbe HRÏH sind im Uhrzeigersinn die Silben des Mantra aufgebaut. Während der Rezitation des Mantra liest man die Silben quasi aus Avalokitesvaras Herz ab. Weiter stellt man sich vor, daß durch die Rezitation von der Silbe HRÏH und dem Mantra Licht und Nektar ausgehen. Diese füllen den ganzen Körper an und reinigen ihn von allen Hindernissen und Fehlern von Körper, Rede und Geist. Dadurch nimmt man eine strahlende Erscheinung an. Dabei sollte man sich den Körper nicht aus Fleisch und Blut bestehend vorstellen, sondern als einen Lichtkörper, einen völlig geläuterten Körper.

Selbst wenn man das Mantra nur einige Male spricht, so heißt es in den Schriften, können Hindernisse und schlechtes Karma von Zeitaltern gereinigt werden. Nun mag man denken, daß man nach einigen Mantra-Rezitationen gar keine Fehler mehr hätte, aber man sollte bedenken, daß man seit anfangsloser Zeit sehr viel Negatives angesammelt hat, das sich noch immer im eigenen Geist befindet. Auch sammelt man ständig wieder neue unheilsame Handlungen an, und es besteht eher die Gefahr, daß die schlechten Anlagen sich vermehren als daß sie abnehmen.

Bei uns ist es so ähnlich wie bei den Elefanten: Wenn es ihnen zu heiß wird oder wenn sie schmutzig geworden sind, springen sie ins Wasser und waschen sich. Aber sobald sie aus dem Wasser herauskommen, machen sie sich einen Spaß daraus, sich auf den Rücken zu legen und auf der schmutzigen Erde herumzuwälzen, so daß sie kurze Zeit später wieder ein Bad benötigen. Die Mantras haben zwar eine sehr große läuternde Kraft, aber unsere Veranlagung zu schlechten Handlungen ist ebenfalls sehr stark.

Man kann diese Avalokitesvara-Meditation auch gut für andere Wesen durchführen. Ich werde zum Beispiel oft gefragt, was man für Verstorbene tun kann. In diesem Fall visualisiert man die betreffende Person vor sich und stellt sich vor, daß Licht und Nektar aus Avalokitesvaras Herzen von ihrem Scheitel her ihren ganzen Körper anfüllen und sie von allem schlechten Karma und allen Hindernissen reinigen. Ihr Körper wird rein wie Kristall, und ihr Geist wird von Glückseligkeit erfüllt.

Nachdem ich so gebetet habe, wird Avalokitesvara zu Licht und verschmilzt durch meinen Scheitel mit mir. Mein Körper, meine Sprache und mein Geist werden unterschiedslos von einem Geschmack mit denen der Gottheit.

Es gibt verschiedene Arten, die Visualisation des Verdienstfeldes aufzulösen, die man zu Beginn der Meditation aufgebaut hatte. Diejenigen, die bereits eine tantrische Initiation erhalten haben, stellen sich vor, daß der Buddha vollständig eins mit ihnen wird und über den Scheitel mit ihnen verschmilzt. Eine andere Methode, bei der das Zufluchtsfeld erhalten bleibt, geht folgendermaßen: Man visualisiert, wie sich ein Doppel von dem Verdienstfeld, in diesem Fall von Avalokitesvara, ablöst. Dieses Doppel, das in seinen Eigenschaften völlig eins mit dem Buddha ist, verschmilzt durch den Scheitel mit uns. Dabei bleibt das "äußere" Verdienstfeld erhalten und steht jederzeit zur Verfügung.

Wenn man an dieser Stelle denkt, daß man den Segen von Avalokitesvara bekommt und völlig eins mit Körper, Rede und Geist des Erwachten wird, so geschieht dies, weil davon eine starke Kraft ausgeht, die die Entwicklung heilsamer Eigenschaften sehr fördert.

Aber man ist in Wirklichkeit natürlich noch nicht zu Avalokitesvara geworden, sondern muß noch sehr viel dafür tun, diesen Zustand zu erreichen. Zu diesem Zweck hatte man vorher die Meditation mit den Sieben Zweigen usw. durchgeführt.

Erhabener Avalokitesvara, Schatzhaus des Erbarmens, ich bitte dich und deine Begleitung, schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Ich bitte dich, befreie mich und meine Mütter und Väter, die Lebewesen der sechs Bereiche, schnell aus dem Ozean des Daseinskreislaufes. Ich bitte dich, laß das unübertroffene tiefe und weite Erleuchtungsstreben schnell im Strom unseres Geistes entstehen.

Ich bitte dich, wasche schnell mit dem Wasser deines Erbarmens all unsere ohne Beginn angesammelten schlechten Taten und Leidenschaften hinweg, strecke dann deine Hand aus und führe uns und alle im Daseinskreislauf Umherwandernden in das Reine Land Sukhavati.

Ich bitte euch Amitabha und Avalokitesvara, seid uns in allen Lebenszeiten die Geistigen Lehrer, lehrt uns in rechter Weise den untrügerischen Guten Pfad und versetzt uns schnell in den Zustand eines Buddha.

Diese drei Verse des Wunschgebets stammen aus alten Meditationstexten über Avalokitesvara. Besonders dann, wenn wir die Meditation als Gebet für Verstorbene machen, ist es sehr segensreich, sie zu rezitieren. Mit diesen und den folgenden Versen widmet man zum Abschluß der Meditation die Verdienste dem Erreichen der Ziele im Dharma und dem Wohl der Lebewesen. Dadurch verbraucht sich das Heilsame nicht wieder, sondern wächst selbst dann weiter an, wenn man die Früchte erfährt.

Möge ich durch diese Verdienste schnell die Eigenschaften Avalokitesvaras verwirklichen und dann auch alle Lebewesen ohne eine Ausnahme zu dieser Ebene führen.

Möge der kostbare erhabene Geist des Mitleids entstehen, wo er noch nicht entstanden ist; und wo er bereits entstanden ist, möge er nicht wieder nachlassen, sondern weiter und weiter anwachsen.

Möge der kostbare erhabene Erleuchtungsgeist entstehen, wo er noch nicht entstanden ist; und wo er bereits entstanden ist, möge er nicht wieder nachlassen, sondern weiter und weiter anwachsen.

Mündliche Übersetzung aus dem Tibetischen von Gelong Dschampa Tendsin.

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Tibet und Buddhismus - Heft 39 - 4.Quartal 1996 - S. 8-13